Einundzwanzig
Die Zuckerrohrfelder sahen aus, als ob ein Riese mit einer gewaltigen Sense darüber hinweggefahren wäre, das Eingeborenendorf auf der anderen Inselseite lag in Trümmern, und doch schien die Sonne so hell und strahlend, als sei dies der erste Tag der Schöpfung. Der Himmel war von einem zarten, melancholischen Blau, von der spiegelglatten See wehte eine angenehm kühle Brise herüber.
Patrick, der die Kanonen inspizierte, die seine Männer vom Deck der Enchantress abmontiert hatten, bevor sie versenkt worden war, nutzte die Stille auf dem Hügel über dem Haus, um in Ruhe nachzudenken.
Die Kanonen schienen alle unversehrt zu sein, womit ein gewisser Schutz der Insel gegen Angriffe von außen gesichert war. Doch es war nicht die Sorge um einen möglichen Angriff von Piraten, was des Captains Gedanken im Moment am dringendsten beschäftigte.
Durch den Verlust der diesjährigen Zuckerrohrernte hatte Patrick eine beträchtliche finanzielle Einbuße erlitten, die für ihn fast ebenso schwer zu verwinden war wie die notwendige Zerstörung seines Schiffes. Aber er zweifelte nicht daran, daß er sich mit der Zeit und harter Arbeit von den finanziellen Verlusten wieder erholen würde.
Und irgendwann, in nicht allzu langer Zeit, würde bestimmt auch ein Schiff am Horizont erscheinen, das nicht von Piraten gesteuert und dessen Mannschaft ihnen freundlich gesinnt war. Sobald das geschah, würden er und Charlotte ... Patrick hielt in seinen Überlegungen inne und überließ sich für einenMoment den köstlichen Erinnerungen an die vergangene Liebesnacht mit seiner Frau. Charlotte war wie eine Tigerin gewesen in ihrer ungestümen Leidenschaft. Die Erinnerung daran trieb ihm das Blut in die Wangen und löste ein fast schmerzhaftes Ziehen in seinen Lenden aus.
Doch solche Gedanken brachten ihn im Moment nicht weiter, und so kehrte er zum ursprünglichen Thema seiner Überlegungen zurück. Sie würden also nach Seattle segeln, sobald ein Schiff auftauchte, und dort würde er bei einer der Werften ein neues Schiff in Auftrag geben. Gleichzeitig würde er auch den Bau eines prächtigen Hauses veranlassen, eines Hauses, das seiner Frau und seinem Kind während seiner langen Seereisen Schutz und sämtliche Bequemlichkeiten bieten würde. Und wenn Charlotte sich dort einrichtete, in Seattle oder der näheren Umgebung der Stadt, würde sie ihre Familie so oft sehen können, wie sie wollte, ohne ihr jedoch allzu nahe zu sein.
Sobald seine Angelegenheiten in Seattle geregelt waren, würden sie zu einem Besuch nach Quade's Harbor fahren. Dort, bei ihrer Familie, konnte Charlotte bleiben, solange sie es wünschte, während er seinen Geschäften nachging und kam und ging, wie es ihm beliebte .
Patrick lehnte sich an das kalte Metall des Kanonenrohrs, und sein Lächeln verblaßte. Nein, es konnte nur ein Scherz gewesen sein, Charlotte hatte ihn bestimmt nur ärgern wollen, als sie schwor, sich einen Liebhaber zu nehmen, falls Patrick es wagen sollte, sie allein in Quade's Harbor zurückzulassen ...
So etwas würde sie doch gar nicht wagen — oder vielleicht doch?
Mit Unbehagen dachte Patrick an den Tag zurück, als sie sich zum allerersten Mal begegnet waren. Da hatte Miss Charlotte Quade fünfzehn Meter hoch über dem Deck in der Takelage seines Schiffs gehangen, sich zitternd an den Tauen festgeklammert und sich dankbar, aber widerstrebend von ihm herabhelfen lassen. Bei ihrer nächsten Begegnung, zehn Jahre später, hatte er sie im Souk von Riz gesehen, auf einem Marktplatz vor dessen Besuch selbst ein Engel zurückgeschreckt wäre.
Hölle und Verdammnis, dachte Patrick ärgerlich. Wenn Charlotte all diese anderen extravaganten Ausflüge gewagt hatte, wer oder was würden sie dann davon abhalten können, auch ihre Drohung wahrzumachen, daß sie sich einen anderen Mann nehmen würde, falls es ihr beliebte?
Innerlich schäumte Patrick vor Wut. Die Vorstellung, daß ein anderer Charlottes Gunst gewinnen könnte, war ihm so unerträglich, daß er den Gedanken nicht einmal zu Ende zu denken wagte.
Obwohl er sonst kein Mensch war, der sich übermäßig für die Ansichten anderer interessierte, fürchtete er jetzt den unvermeidlichen Skandal. Jedes Schiff, jeder Zug, jede Kutsche und jeder Heuwagen würden die Neuigkeiten von Charlotte Trevarrens Untreue weiterbefördern, bis es keinen Menschen mehr in der ganzen westlichen Hemisphäre gab, der nicht über sämtliche schmutzige Einzelheiten informiert war.
Fluchend ging Patrick zu der nächsten Kanone, um auch sie auf Sturmschäden zu untersuchen. Sein Ärger legte sich ein wenig, als ihm ganz unvermittelt Charlottes Vater in den Sinn kam, der legendäre Brigham Quade. Patrick kannte ihn nicht persönlich, aber er hatte genug von ihm gehört, um überzeugt zu sein, daß Brigham Charlotte zur Räson bringen würde, solange sie sich in seiner Obhut befand.
Auf der Hügelkuppe tauchte Cochran auf und kratzte sich nachdenklich am Kopf, als er seinen Captain erblickte. Ein munteres Liedchen auf den Lippen, machte er die Kanonen einsatzbereit, die sein kleines, aber perfektes Königreich verteidigen sollten.
»Wie kannst du so gut gelaunt sein?« fragte der erste Maat verwundert und noch ein bißchen atemlos vom Aufstieg. »Deine Ernte ist zerstört, die meisten der Nebengebäude liegen in Trümmern, ebenso wie die Dörfer der Eingeborenen, und Gott allein mag wissen, was als nächste schreckliche Bedrohung auf uns zukommt ...«
»Hast du vergessen, daß ich geheiratet habe?« unterbrach Patrick ihn, froh über die Ablenkung, weil die Richtung, die seine Gedanken eingeschlagen hatten, ihm nicht angenehm war. »Und daß gestern meine Hochzeitsnacht war?«
»Ja, das hatte ich tatsächlich vergessen«, gab Cochran zu und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann errötete er bis unter die Haarwurzeln, räusperte sich und wandte sich ab, um mit besorgten Blicken aufs Meer hinauszuschauen. »Wann, glaubst du, wird er sich blicken lassen — Raheem, meine ich? Oder wer immer auch sonst der Schuft sein mag, der dort draußen lauert?«
Patrick fegte Palmzweige und anderen Abfall vom Lauf der größten und mächtigsten der vier Kanonen. »Nach Einbruch der Nacht vermutlich«, erwiderte er. »Ein Unglück kommt selten allein, Cochran. Das solltest du auch wissen. Wenn man sich gerade mühsam von einem Schlag aufrappelt, kann man meistens schon mit dem nächsten rechnen.«
Cochran spuckte aus. »Nun ja, die Jungs sind jedenfalls auf alles vorbereitet, Captain, dafür habe ich gesorgt.« Er brach ab und räusperte sich unbehaglich. »Was ist mit den Frauen? Meinst du nicht, es wäre besser, wenn wir sie irgendwo verstecken würden? Denn falls es wirklich Raheem ist, der mir dieses ungute Gefühl verursacht — und ich sage dir, beim Gedanken an ihn bekomme ich eine Gänsehaut, und meine Nackenhaare sträuben sich — dann ist er nur aus einem Grund hier, nämlich weil er sich Charlotte endlich holen will!«
Ein jäher, wilder Zorn erfaßte Patrick, aber er brachte ihn unverzüglich wieder unter Kontrolle. Wenn er je seine sieben Sinne beisammen brauchte, dann jetzt. So nickte er nur in grimmiger Zustimmung und dachte an Khalifs Warnung, daß der Pirat nicht eher ruhen würde, bis er das bekam, was er als sein Eigentum ansah.
»Es ist Raheem«, sagte er mit ruhiger Überzeugung, seufzte und rollte die Schulter, um etwas von der Spannung zu lockern, die sie verkrampfte. »Und ja — du hast natürlich recht, wir müssen die Frauen an einen Ort bringen, wo er sie nicht finden kann. Ob sie allerdings dort bleiben werden, ist eine Frage, die nur Gott beantworten kann«, fügte er mit einem resignierten Seufzen hinzu.
»Ich glaube nicht, daß sie eine weitere solche Strafpredigt riskieren würden, wie Miss Nora sie gestern abend über sich ergehen lassen mußte«, bemerkte Cochran und ließ es so klingen, als ob er tatsächlich an einen solchen Unsinn glaubte.
»Hast du keine Augen im Kopf, Cochran?« fuhr Patrick ihn ärgerlich an. »Nicht eine einzige dieser Rangen würde auch nur eine Sekunde zögern, meinen Anweisungen zuwiderzuhandeln, falls sie das Bedürfnis dazu verspürten! Manchmal wäre es mir wirklich lieber, zu den Männern zu gehören, die imstande sind, eine Frau übers Knie zu legen, falls es nötig ist. Leider bringe ich es nicht übers Herz, meine eigenen Ratschläge, die ich anderen geben würde, zu beherzigen.«
Cochran lächelte und klopfte Patrick auf die Schulter. »Beurteile dich nicht zu streng, Captain. Die Zeiten haben sich geändert. Ein kluger Mann schlägt heute keine Frauen mehr, weil er weiß, daß es ihre Bestimmung ist, geliebt und nicht verletzt zu werden.«
Patrick biß die Zähne zusammen. Im Augenblick mochte es ihm noch gestattet sein, sich nicht den Kopf über seinen Haushalt zu zerbrechen. Aber was würde geschehen, wenn er eines Tages von einer Seereise heimkehrte und herausfand, daß Charlotte das Bett mit einem anderen Mann als ihm geteilt hatte ... daß ein Fremder zwischen ihren schönen weichen Schenkeln gelegen und ihren zärtlichen Trost für sich in Anspruch genommen hatte?
Patricks Angst vor seiner eigenen Reaktion in einer derartigen Situation war fast noch größer als die Angst vor Charlottes Verrat selbst.
»Hast du heute morgen schon meine Frau gesehen?« fragte er nach einem kurzen, brütenden Schweigen, dann wandte er sich ab und begann Cochran voran den Hügel hinabzusteigen.
Cochran lächelte. »Aye, Sir. Mrs. Trevarren ist mit den anderen ins Dorf gegangen, um den Leuten beim Wiederaufbau ihrer Hütten zu helfen.«
»Dann sieh zu, daß du sie schnellstens hierher zurückholst!« knurrte Patrick, dem bewußt war, wie einfach es für Raheem oder seine Leute wäre, an Land zu rudern und Charlotte und seine Mündel mitten aus der Gruppe der Dorfleute heraus zu entführen. Kein einziger der friedfertigen Eingeborenen würde auch nur den Versuch wagen, den Piraten Einhalt zu gebieten.
»O nein, tut mir leid, Captain!« entgegnete Cochran und hob bedauernd die Hände. »Das kannst du selbst tun. Bevor ich mich mit diesen Trotzköpfen anlege, lasse ich mich eher mit einem Rudel hungriger Wölfinnen ein.«
Patrick fluchte und war erbost, verzichtete jedoch darauf, seinen Befehl zu wiederholen. Ohne ein weiteres Wort zu seinem ersten Maat, wandte er sich in Richtung Ställe, die wie das Herrenhaus dem Orkan standgehalten hatten, sattelte seinen rotbraunen Wallach und machte sich auf den Weg ins Dorf, zum zweitenmal an diesem Morgen schon.
Deborah schnappte nach Luft und stieß einen entsetzten Schrei aus, als sie, Charlotte und die anderen mit Mary Fängt-viel-Fisch in der kleinen Dorfgemeinschaft auf der anderen Seite der Insel eintrafen.
Charlotte war fassungslos über den Gleichmut, den Mary an diesem Morgen bei dem Gespräch über die Sturmschäden gezeigt hatte. Das Chaos, das sich Charlottes Augen bot, war unglaublich. Wo vorher saubere kleine Hütten gestanden haben mußten, taten sich jetzt tiefe Krater in der Erde auf, die bis an den Rand mit Meerwasser gefüllt waren.
Alte Frauen kauerten auf Felsen und Steinen, heulend und wehklagend, während die Babys, die ihrer Obhut anvertraut waren, vor Hunger schrien und wimmerten. Die Männer flickten die Fischernetze, die jungen Frauen sammelten Zweige, Buschwerk und biegsame Äste, die sie an verschiedenen Stellen des Dorfs zu Stapeln aufhäuften.
»Um Himmels willen!« meinte Charlotte bestürzt. »Das ist ja eine Tragödie ...«
»Was sollen wir tun?« fragte Deborah, deren schöne blaue Augen sich mit mitleidigen Tränen füllten.
Charlotte setzte zu einer Erwiderung an, doch bevor sie etwas sagen konnte, übernahm Jayne das Kommando.
»Stella, Nora und ich werden den Frauen helfen, das Baumaterial zusammenzutragen, während Sie, Charlotte — Verzeihung, ich meinte, Mrs. Trevarren — sich mit Deborah um die Kinder kümmern könnten. Deborah liebt Babys und versteht mit ihnen umzugehen, und ich glaube nicht, daß es Patrick recht wäre, wenn seine junge Braut im Dschungel herumtapst.«
»Hört endlich auf, mich zu siezen und nennt mich Charlotte«, entgegnete Mrs. Trevarren ungeduldig. »Wir sind jetzt
alle eine Familie und Patricks Ansichten, wie Frauen sich zu verhalten haben, stehen hier nicht zur Diskussion. Selbstverständlich werde ich helfen, nach den Kleinen zu sehen, aber keineswegs aus der Befürchtung heraus, den Unmut meines Gatten zu erregen. Ich liebe Kinder, das ist mir Grund genug.«
Jayne lächelte, und in diesem Augenblick erkannte Charlotte, daß sie eine Freundin fürs Leben gewonnen hatte. »Na schön«, sagte sie, »dann laßt uns jetzt die Ärmel aufkrempeln und versuchen, diesen armen Leuten beizustehen!«
Trotz des schrillen und beständigen Geheuls der Großmütter, die das Dorf betrauerten, obwohl nicht ein einziges Menschenleben zu beklagen war, und trotz des Geschreis der vielen hungrigen Babys wurden es ausgesprochen glückliche Stunden für Charlotte. Sie sammelte die molligen Säuglinge ein, drückte sie an ihre Brust, erfreute sich an ihren reizenden dunklen Gesichtern und liebte sie für ihre Unschuld. Sie und Deborah trockneten ihre Tränen und flößten ihnen Kokosnußmilch ein, solange ihre Mütter zu beschäftigt waren, um ihnen die Brust zu geben.
Währenddessen sammelten Jayne, Stella und Nora mit dem gleichen Eifer wie die Eingeborenenfrauen Zweige, Buschwerk und dicke Lianen. Alle waren gut gelaunt und sehr mit sich zufrieden, bis Patrick plötzlich am weißen Strand auftauchte. Mit grimmiger Miene und so eilig, als hätte er eine dringende Mission zu erfüllen, kam er zum Dorf herübergeritten.
Ein zappelndes Baby unter jedem Arm, ging Charlotte auf bloßen Füßen vorsichtig um die vielen schlammgefüllten Krater des überfluteten Dorfs herum und Patrick entgegen. Das harte Leder seines Sattels ächzte, als er sich umwandte, um mit besorgter Miene auf die See hinauszuschauen. Dann erst richtete er seinen Blick auf Charlotte.
Seine Gesichtszüge, eben noch düster und beunruhigt, wurden zusehends sanfter. »Du dürftest eigentlich nicht hier sein« sagte er. »Es ist gefährlich.«
Charlotte zog die lebhaften Babys fester unter den Arm und lachte. »Ach, Patrick, für dich ist alles gefährlich! Wenn es nach dir ginge, säße ich in deinem Salon, Tag für Tag, würde ein albernes Stickmuster nach dem anderen anfertigen und darauf warten, daß du von irgendeinem großartigen Abenteuer heimkehrst.«
Patrick schwang ein Bein über den Sattel, ließ sich auf den Boden gleiten und blieb vor Charlotte stehen. »Wäre das so schrecklich?« fragte er ernst.
Ein Stich durchzuckte Charlottes Herz, aber er war nicht schmerzhafter Natur, sondern unendlich süß. Wie sehr sie diesen Mann liebte, und wie sehr sie wünschte, es nicht zu tun! »Ja, Patrick«, antwortete sie in sanftem Ton. »Für mich wäre es wie eine Gefangenschaft.«
Er seufzte, ihr Gatte, und nahm ihr das schwerere der beiden Babys ab. »Ich werde wohl nie begreifen, warum dir Sicherheit so wenig bedeutet«, gestand er kopfschüttelnd.
Charlotte streckte die Hand aus und ließ ihre Fingerspitzen ganz sachte über seine Hemdknöpfe gleiten, entzückt von dem Erschauern, das durch seinen Körper ging. »Wenn du mich wirklich schützen willst, Patrick«, neckte sie ihn, »solltest du vielleicht lieber aufhören, mich nachts zu lieben. Denn manchmal ist mir, als ob ich sterben müßte, so schön ist es.«
Sie machte eine Pause und beugte sich noch näher zu ihm vor, weil sie spürte, daß ihre Worte ihn erregten und daß es nichts gab, was er dagegen tun konnte. »Ich schwöre dir, Captain, daß mein Herz anfängt zu rasen, mein Atem stockt und meine Vernunft wie weggeblasen ist, wenn du mich liebst. Und das, mein Lieber, halte ich für gefährlich!«
»Hör auf«, warnte er stirnrunzelnd, und von seinem Nacken zu seinen Wangen stieg eine heiße Röte auf.
Charlotte lachte, und Patrick fluchte, als er den feuchten Fleck bemerkte, der sich unter dem nackten Kind auf seinem Hemd ausbreitete. Sie lachte noch, als er ihr nach einem weiteren groben Fluch den Säugling zurückgab und zu einem Wasserloch lief, um sich zu reinigen.
Als er zu ihr zurückkehrte, war sein Oberkörper nackt und Brust und Hemd gewaschen. Das Hemd hing über einem nahen Ast.
Charlotte schaute Patrick an, ließ ihren Blick über seine nackte Brust gleiten und wurde von angenehmen Erinnerungen an die Nacht zuvor erfaßt. Sie erschauerte ganz unbewußt, und ein köstliches Prickeln überzog ihre Haut. Verlegen wandte sie den Blick von ihrem Mann ab.
Den ganzen Morgen lang arbeitete Patrick so unermüdlich wie die anderen und half mit beim Aufbau der neuen Hütten, auf einer Anhöhe über dem Platz, auf dem sich das alte Dorf befunden hatte. Gegen Mittag jedoch, nach einem weiteren beunruhigten Blick zum Horizont, befahl er seinen Mündeln plötzlich, schnellstens zum Haus zurückzukehren. Sie sollten auf dem Heimweg unbedingt den Strand meiden, warnte er, und sich am vereinbarten Ort verbergen, sobald sie zu Hause angekommen waren.
Als die Mädchen sich widerstrebend auf den Weg machten, holte Patrick sein von der Sonne getrocknetes Hemd, hob Charlotte auf den Rücken seines Wallachs und schwang sich hinter ihr in den Sattel.
»Was ist, Patrick? Warum hast du es plötzlich so eilig?« fragte sie alarmiert, als sie die überscharfe, gespannte Wachsamkeit spürte, die von ihm ausging.
Der temperamentvolle Wallach tänzelte nervös, als Patrick ohne die Frage seiner Frau beantwortet zu haben, das Wort an die Dorfbewohner richtete. Charlotte verstand nicht, was er sagte, da er in ihrer eigenen Sprache mit ihnen redete, aber zu ihrem Erstaunen sah sie, daß seine Worte die Leute veranlaßten, alles stehen und liegen zu lassen. Rasch sammelten sie die Babys ein, die Kleinkinder und die wehklagenden alten Frauen, und waren innerhalb weniger Minuten im Dschungel verschwunden.
»Wir bekommen Besuch«, sagte Patrick endlich zu Charlotte, nahm ein kleines Fernrohr aus der Satteltasche und stellte es auf die entfernte blaugrüne Linie ein, wo Himmel und Meer aufeinandertrafen.
Charlottes Herz setzte einen Schlag aus, doch obwohl sie sich im Sattel aufrichtete und sich den Hals verrenkte, erkannte sie nichts außer einem winzigen dunklen Fleck am Horizont.
»Das ist doch großartig — oder?« bemerkte sie unsicher. »Daß Besucher kommen, meine ich ... Dann sitzen wir hier nicht mehr fest, und vielleicht kann Gideon jetzt nach Australien fahren und mit seinen Bekehrungen beginnen.«
»Gideon?« wiederholte Patrick und zog eine Augenbraue hoch, bevor er Charlotte das Fernrohr reichte.
Sie erwiderte nichts und verengte nur die Augen, um durch das winzige Glas zu schauen. Nach einigen Schwierigkeiten machte sie den Gegenstand von Patricks Sorge aus — ein langsam dahinziehendes, eigenartig düster wirkendes Schiff, das keine Flagge trug, an der es zu identifizieren wäre.
»Piraten?« fragte sie erschrocken.
»Ja. Dein Freund Raheem«, bestätigte Patrick grimmig.
Charlotte erschauerte. Sie wußte inzwischen nur zu gut, daß sie an jenem denkwürdigen Junitag aus dem Souk entführt worden war, weil Raheem den Befehl dazu gegeben hatte. Doch anstatt sie dem Piratenkapitän wie vereinbart als Geschenk zu überbringen, hatten seine Männer sie bei einem Kartenspiel verloren, und sie war in einem Kartoffelsack in Patrick Trevarrens Kabine gelandet.
»Es muß ein äußerst rachsüchtiger Mensch sein«, bemerkte sie leichthin, als Patrick das Pferd wendete und es zum Strand hinunter galoppieren ließ. »Einen so weiten Weg zurückzulegen, nur um eine ganz gewöhnliche Frau zu entführen!«
Patrick lachte leise, sein warmer Atem streifte ihr Ohr. »Du bist keine gewöhnliche Frau, Göttin. Und ich würde noch viel weiter reisen, um dich zu holen. In dieser Hinsicht zumindest kann ich Raheem keinen Vorwurf machen.«
Trotz der Gefahr und des Ernstes ihrer Lage verspürte Charlotte eine freudige Erregung und einen wilden Triumph bei Patricks Worten. Die meiste Zeit war er eher bemüht, den Eindruck zu vermitteln, daß er es kaum erwarten konnte, sie loszuwerden. Die Erkenntnis, daß sie ihm eine weite Reise über See und Meere wert gewesen wäre, um sie heimzuholen, beschwingte sie und vermittelte ihr Kraft für die neuen Schrecken, die auf sie zukamen.
Es war sehr romantisch, wie eine Szene aus ihren Jungmädchenphantasien, geschützt und sicher in den Armen des Mannes, den sie liebte, auf dem Pferderücken über den weißen Sand zu galoppieren.
Doch kaum hatten sie die Ställe erreicht, war alle Romantik verflogen. Patricks Miene war grimmig wie eh und je, als er sich aus dem Sattel schwang. Charlotte hinunterhob und sie brüsk aufforderte, ins Haus zu gehen und sich zu den anderen zu gesellen. »Jacoba wird euch zeigen, wo ihr euch verstecken könnt.«
»Ich könnte dir einige Orte nennen, an die ich dich jetzt gern schicken würde«, entgegnete Charlotte liebenswürdig. »Die Hölle ist nur einer davon.«
»Charlotte, Charlotte«, brummte Patrick mit mühsam verhohlener Ungeduld, als er den Gurt unter dem Pferdebauch löste, um dem Tier den schweren Sattel abzunehmen. »Ich habe jetzt weder Zeit noch die nötige Geduld für deine schlechten Scherze.« Er hängte den Sattel an einen Haken in der Wand, drehte Charlotte an den Schultern herum in Richtung Haus und versetzte ihr einen Klaps auf ihren Po. »Geh jetzt«, sagte er warnend, als sie, errötend vor Empörung, zum Protest ansetzte.
Sie seufzte und wäre gern größer und stärker gewesen, um Patrick zu einem Faustkampf herausfordern zu können, bei dem er sich eine blutige Nase holen würde. Aber da beides leider nicht der Fall war, gab sie es schließlich auf und gehorchte. Jacoba wartete schon drinnen auf sie und schob sie unverzüglich über einen Korridor in einen Teil des Hauses, in dem Charlotte noch nie gewesen war.
Am Ende des langen Gangs schob die Haushälterin einen Schrank beiseite, und eine Tür kam zum Vorschein, die sich geräuschlos öffnen ließ. Die Scharniere, sah Charlotte, waren so gut geölt, daß sie im Halbdunkel glänzten.
Auf der anderen Seite der Tür befand sich ein erstaunlich gemütlicher Raum, der mit bequemen Sofas, Sesseln, Tischen, Kerzenleuchtern, Büchern und Nahrungsmitteln ausgestattet war.
Nora, Deborah, Stella und Jayne saßen an einem runden Tisch und spielten Karten.
Die Szene erinnerte Charlotte sehr stark an Khalifs Harem. Auch jener Ort, genau wie dieser hier, hatte sämtlichen Komfort geboten, und doch waren beide nichts als luxuriöse Kerker.
»Möchtest du mitspielen, Charlotte?« fragte Deborah und rückte eifrig beiseite, damit sie sich einen Stuhl zu ihr heranziehen konnte. »Wir spielen Poker.« Dann senkte sie die Stimme, als vertraute sie Charlotte ein strenggehütetes Geheimnis an. »Wir spielen sogar um Einsätze — ich habe schon mein schönstes Haarband verloren — und du wirst sehr aufpassen müssen, weil ich nämlich glaube, daß Nora und Jayne pfuschen.«
Charlotte nahm sich einen Stuhl und setzte sich in den Kreis. Nora und Jayne lachten, anstatt sich über Deborahs Beschuldigung zu ärgern.
»Du warst schon immer eine schlechte Verliererin«, warf Nora dem jüngsten Mädchen vor.
Jayne, die bisher in ihr Blatt vertieft gewesen war, mischte sich begütigend ein. »Laßt uns nicht streiten, meine Damen«, riet sie lächelnd. »Es könnte sein, daß wir tagelang in diesem Zimmer hocken müssen.«
Charlotte spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. In vieler Hinsicht war es ihre Schuld, daß die Eingeborenen sich in Gefahr befanden und die anderen sich in diesem geheimen Raum verbergen mußten. Alles hatte damit angefangen, daß sie an jenem verhängnisvollen Junitag in Riz den Souk erforschen wollte, obwohl ihr ein Besuch auf dem Marktplatz ausdrücklich verboten worden war ...
»Es tut mir so leid«, flüsterte sie bedrückt.
Die vier anderen Mädchen schauten verwundert auf. »Leid?« echote Nora. »Was soll dir denn leid tun?«
»Daß ich euch alle in Gefahr gebracht habe«, gestand Charlotte unglücklich. »Diese Piraten sind meinetwegen hergekommen.«
»Was?« Noras Augen weiteten sich vor Interesse; sie legte die Karten nieder und beugte sich neugierig vor. »Das kann doch nicht dein Ernst sein, Charlotte?«
»Ist es so?« flüsterte Deborah und machte große Augen.
»Sie sind hinter dir her?« fragte Jayne und deutete auf die Zimmertür, als müßte jeden Augenblick mit dem Eindringen von Piraten gerechnet werden.
Charlotte nickte, schluckte und erzählte schließlich ihre Geschichte, stockend zwar, aber ohne etwas auszulassen, vom Augenblick ihrer Entführung an bis zur Ankunft der zum Untergang verdammten Enchantress auf dieser Insel.
»Donnerwetter!« rief Stella und klatschte begeistert in die Hände, als Charlotte ihre Erzählung beendet hatte. »Das ist ja phantastisch!«
»Ja ... du hast Patrick also gleich zweimal geheiratet«, meinte Deborah nachdenklich. »O Charlotte — das ist das Romantischste, was ich je gehört habe!«
Jayne, praktisch und nüchtern wie immer, schnaubte auf sehr undamenhafte Art und sagte: »>Romantisch?< Das soll wohl ein Scherz sein — er hat Charlotte in einem Anfall von Wut verstoßen, ganz schlicht und einfach, indem er in die Hände klatschte und ein paar alberne Wörter aussprach! Meiner Meinung nach könnte unser Patrick ganz dringend eine Lektion in gutem Benehmen brauchen!«
Charlotte lächelte, sagte jedoch nichts, denn ihr war gerade eine Idee gekommen, die ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte.
Jayne war eine temperamentvolle Unruhestifterin, genau wie Charlotte selbst, die lieber die Dinge in die Hand nahm, als untätig herumzusitzen, zuzuschauen und darauf zu achten, daß ihre Kleider sauber blieben ...
In einem jähen Anfall von Inspiration erkannte Charlotte, daß dieser energische, starrsinnige Rotschopf genau die Frau war, die Gideon brauchte — vorausgesetzt natürlich, daß Jayne ihn zum Mann haben wollte. Von allen vier Mädchen besaß nur sie den Mut, der nötig war, um in den australischen Busch zu ziehen und unter den wilden Ureinwohnern zu leben. Und es fehlte ihr auch nicht an Charakterstärke, Entschlossenheit und der angeborenen Herzenswärme, die für die Frau eines Klerikers unabdingbar waren.
»Warum starrst du mich so an?« fragte die junge Frau, die Charlotte soeben zur Missionarin erkoren hatte.
»Ich habe nur gerade ein bißchen Heiratsvermittlerin gespielt«, gab Charlotte schmunzelnd zu.
Nora lächelte verträumt und seufzte leise.
»Sie ist in Billy Piper verliebt«, verkündete Deborah und schwenkte die Hand in Richtung Nora. »Er war ihr Lieblingspatient, als er und die anderen mit dem Fieber darniederlagen.«
Charlotte hatte noch keine Partie Karten mitgespielt und begann sich doch schon rastlos und eingesperrt zu fühlen. Sie wäre lieber draußen gewesen, bei den Männern, um an den Vorbereitungen zur Verteidigung des Hauses und der Insel teilzunehmen.
Als sie aufstand und mit verschränkten Armen durch den Raum zu wandern begann, vermochten die anderen ihren Gedankengängen mühelos zu folgen. Was nicht weiter überraschend war, denn das Nahen eines Piratenschiffes war aufregend genug, um aller Gedanken zu beschäftigen.
»Glaubt ihr, daß es zu Blutvergießen kommen wird?« fragte Deborah furchtsam.
»Selbstverständlich«, erwiderte Jayne, und obwohl ihre Augen vor Erregung glitzerten, war ihre Haut blasser als gewöhnlich, und ihre Sommersprossen traten ganz besonders deutlich hervor. »Sie werden auf uns schießen, wir schießen zurück, und zum Schluß werden wir Frauen entweder unsere eigenen Verwundeten pflegen oder — wie es bei Piraten üblich ist — als Kriegsbeute geschändet werden.«
Deborah wurde ganz grau im Gesicht und stieß einen leisen, verängstigten Schrei aus, und sofort beugte Nora sich vor und legte beschützend einen Arm um das zitternde Mädchen. »Sei still!« forderte sie Jayne stirnrunzelnd auf. »Ihr ängstigt das arme Kind zu Tode!«
Jayne zuckte die Schultern. »Es wäre besser für sie, wenn sie sich mit der Wirklichkeit abfände. Denn falls es Patrick und den anderen nicht gelingt, die Angreifer zurückzuschlagen, meine Lieben, könnt ihr euch von eurer jungfräulichen Unschuld verabschieden, fürchte ich!«
Deborah sprang auf und stieß ein schrilles, verzweifeltes Heulen aus.
»Ein Wort noch, Jayne«, warnte Nora und hob drohend die Faust, »und du hast für mindestens eine Woche lang ein blaues Auge!«
»Hört auf«, sagte Charlotte rasch und hob flehend die Hände. »Bitte streitet euch nicht! Angesichts der schrecklichen Gefahr, die uns von außen droht, sollten wenigstens hier drinnen Harmonie und Frieden herrschen ...« Mit einem Seufzen brach sie ab, um dann leise hinzuzufügen: »Patrick wird uns beschützen.«
Danach, und obwohl alle bemüht waren, sich auf das Kartenspiel zu konzentrieren, vibrierte der Raum vor Spannung. Die Stunden verstrichen mit der trägen Langsamkeit von fetten braunen Schnecken, die eine grasbewachsene Wiese überquerten.
Als es dunkel im Zimmer wurde, zündete Charlotte die Kerzen in den Kandelabern an, und alle aßen etwas; die einen französische Pralinen, die anderen Sandwiches und Obst. Und alle warteten.
Kurz nach Sonnenuntergang erschütterte der erste Kanonendonner die massiven Grundmauern des Herrenhauses.
Charlotte, die inzwischen zitterte vor lauter Ungeduld, stand auf und begann nervös im Zimmer herumzuwandern. Was hätte sie jetzt nicht dafür gegeben, sich mit eigenen Augen ein Bild von den Ereignissen machen zu können, anstatt sich auf ihre Phantasie beschränken zu müssen! Ob Raheem auf der anderen Seite der Insel angelegt hatte, um seine Männer dann quer durch den Dschungel zu führen? Oder war er dreist genug gewesen, in der Bucht zu ankern und das Feuer vom Schiff aus zu eröffnen?
Des Herumwanderns überdrüssig, ging Charlotte zur Tür und versuchte, sie zu öffnen. Sie war verärgert, wenn auch nicht eigentlich überrascht, als sie merkte, daß die Tür verriegelt war. Und da sie den Raum im Laufe des Nachmittags bereits auf Fluchtmöglichkeiten untersucht hatte, blieb ihr jetzt nichts anderes mehr übrig, als sich damit abzufinden, daß sie und die anderen für die Dauer des Angriffs in diesem Zimmer eingeschlossen waren.
Die Kanonen donnerten ein zweites Mal: der Kampf zwischen den Eindringlingen und den Verteidigern der Insel schien jetzt ganz ernsthaft zu beginnen.
Deborah schlug beide Hände vors Gesicht und begann zu weinen, mit einer Hoffnungslosigkeit, die an Charlottes Herz und Nerven zerrte.
»Na, bist du jetzt zufrieden?« fuhr Nora Jayne an, und ihre Stimme klang ganz ungewöhnlich schroff. »Sieh dir an, was du mit deinem dummen Gerede angerichtet hast — mit all diesem Blödsinn über Geschändetwerden und dem ganzen anderen Quatsch!«
Jayne wirkte zunächst betroffen. Doch dann setzte sie eine trotzige Miene auf und wollte gerade etwas erwidern, als ein kratzendes Geräusch auf dem Flur sie alle verstummen ließ. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu erraten, daß jemand den Schrank bewegte, der die Tür verbarg.
Alle hielten erschrocken den Atem an, einschließlich Charlotte, aber dann war es nur Gideon Rowling, der den Raum betrat, und kein grinsender Pirat.
Charlotte stürzte ihm förmlich entgegen und umklammerte mit beiden Händen seine Weste. »Was ist passiert?« rief sie gespannt und schaute aus großen, furchtsam geweiteten Augen zu ihm auf. »Ist Patrick in Sicherheit?«
Gideon legte einen Moment seine Hand auf die ihre. »Ja. Insofern man unter den gegebenen Umständen von Sicherheit überhaupt sprechen kann . .«
Deborah stieß einen schrillen, angstvollen Schrei aus und warf sich schluchzend auf eine Couch.
Es war zu erwarten, daß Gideon — als Mann Gottes, der geschworen hatte, den Bedrängten Trost zu spenden — zu dem weinenden Mädchen eilte. Charlotte zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde lang, bevor sie Nutzen aus dieser willkommenen Ablenkung zog und durch die offene Tür auf den düsteren Gang hinausschlüpfte.
Das Haus erbebte gerade unter dem Einschlagen einer Kanonenkugel, und die Stimme ihrer Vernunft riet Charlotte, in ihrem Versteck zu bleiben. Doch diese Stimme war zu leise, um sich durchzusetzen, und Charlottes Sorge um Patrick und die Neugierde, die schon von Geburt an ihr Kreuz gewesen war, siegten natürlich. Mit schnellen, leisen Schritten entfernte sie sich von Sicherheit und Licht und begab sich in die Finsternis und die dort lauernden Gefahren.
Obwohl sie bemüht war, vorsichtig zu sein, stieß sie mehrmals gegen Möbelstücke, während sie sich durch die Dunkelheit zum vorderen Teil des Hauses tastete. Als sie endlich ein Fenster erreichte, war ihr Körper mit blauen Flecken übersät.
Aber Charlotte spürte nichts davon, als sie sich bückte und die Augen verengte, um durch den schmalen Ritz in dem Brett zu schauen, mit dem das Fenster vor dem vergangenen Sturm vernagelt worden war. Und durch diesen winzigen Spalt entdeckte sie nicht nur ein Schiff in der Bucht, sondern gleich drei! Hellrote Flammen schossen aus den Kanonenrohren und erleuchteten die Dunkelheit, als auf allen drei Decks weitere Schüsse abgefeuert wurden.
Charlotte war zu empört, um sich zu fürchten; die Angst, das wußte sie, würde später kommen. Jetzt wollte sie, mußte sie bei Patrick sein. Ob im Leben oder im Tod, sie gehörte an die Seite ihres Mannes.
Sie wollte sich gerade von dem Fenster abwenden, als ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte, begleitet von einer gewaltigen Druckwelle und dem Gefühl unfaßbaren Schocks. Charlottes letzter Gedanke war, daß eine mächtige Kreatur aus Licht und Feuer sie mit sich riß und langsam aufsog, bis sie schließlich selbst ein Teil dieser Erscheinung wurde.
Ein unerklärliches, aber merkwürdig eindringliches Gefühl veranlaßte Patrick, seinen Standort auf der Anhöhe über dem Haus, wo die Kanonen standen, zu verlassen. Es war nichts Greifbares, was ihn dazu zwang, zum Haus zurückzukehren, doch so stark, daß er sich ihm nicht widersetzen konnte.
Am hinteren Eingang des großen Hauses traf er auf Gideon, der völlig aufgelöst erschien.
»Gott sei Dank, daß Sie endlich da sind!« rief der Missionar, und Patrick hatte plötzlich das unheimliche Gefühl, durch ein Gebet von seinem Hügel herabgelockt worden zu sein. »Charlotte ... sie ist ...«
Die drei Worte genügten, um Patrick in Bewegung zu versetzen; durch die Hintertür stürzte er ins Haus und hörte Gideons nächste Worte nur noch wie entferntes Bienensummen an einem heißen Sommertag. »Ich gebe mir selbst die Schuld daran ... Jayne ist bei ihr ... Sie ist einfach an mir vorbeigeschlüpft ...«
Patrick brauchte nicht zu Charlotte geführt zu werden; ihre Seele wies ihm den Weg, während seine eigene ihrer entgegendrängte.
Seine Frau lag reglos auf dem Fußboden im Salon, dicht neben einem völlig zerstörten Fenster. Jayne kniete weinend neben ihr und hielt ihre Hand.
Patricks Herz klopfte so hart, daß er glaubte, es müsse zerspringen, dann setzte es für einige Schläge aus, um schließlich von neuem seinen bedrohlich schnellen Rhythmus aufzunehmen. Doch Patrick achtete nicht darauf. Er ließ sich neben Charlotte auf die Knie sinken und hätte sie wohl aufgehoben, wenn Jayne ihn nicht gewarnt hätte, daß die Bewußtlose nicht bewegt werden durfte.
»Charlotte?« fragte er rauh.
Ihre Augenlider flatterten, aber das war auch die einzige Bewegung, die er an ihr wahrnahm.
»O Gott!« stöhnte er in grenzenloser Bestürzung, »O Gott!« Es war das einzige Gebet, das ihm in diesem Augenblick in den Sinn kam. »O mein Gott ...«
Gideon legte beruhigend eine Hand auf seine Schulter. »Wir kümmern uns um Charlotte — Sie werden draußen gebraucht«, sagte er sanft, aber Patrick schien ihn gar nicht zu hören. Obwohl von allen Seiten laute Kampfgeräusche ins Haus eindrangen, nahm er nichts anderes wahr als seine Frau, die so beängstigend still vor ihm auf dem Boden lag.
Gideon schüttelte ihn sanft. »Charlotte ist bei uns sicher! Kümmern Sie sich um Raheem«, sagte er in eindringlichem Ton, und diesmal schien Patrick aus seiner Starre zu erwachen.
Eine eisige Kälte breitete sich bei der Erwähnung des Piraten in seiner Seele aus. Raheem — der Mann, der für Charlottes Verletzungen und vielleicht sogar für ihren Tod verantwortlich war! Und für den Tod ihres ungeborenen Kindes! fügte Patrick in stummer Verzweiflung hinzu.
Mit düsterer Miene beugte er sich vor und küßte Charlottes blutbefleckte Stirn. Dann, ohne ein Wort oder einen Blick für Jayne und Gideon, richtete Patrick sich langsam zu seiner vollen Größe auf, straffte die Schultern und verließ entschlossenen Schritts den Raum.
Für einige köstliche Momente lang fühlte Charlotte sich von einem wunderbar sanften Licht umgeben, das reine Freude und pures Glück verhieß, doch Sekunden später schon erlosch das Licht, und sie versank wieder in dem ihr schon vertrauten, grimmigen, alles zerreißenden Schmerz. Während sie in den hellen Momenten sämtliche Geheimnisse des Universums zu kennen glaubte, wußte sie im nächsten überhaupt nichts mehr. Ihr war, als zerbräche sie innerlich in zwei Teile, die zwei völlig gegensätzliche Richtungen anstrebten ...
Und dann hörte sie wie aus weiter Ferne eine Stimme ihren Namen ruft ... eine heisere Stimme, die grenzenlose Angst verriet.
Langsam wie eine Blüte, die sich im Sonnenschein entfaltet, begann Charlotte sich aus ihrer inneren Welt zu lösen und dem Pfad zu folgen, den ihr Herz ihr wies; einer dünnen, hellen Linie, die geradewegs zu Patrick führte.